Den Anblick kennt jeder und trotzdem ist es immer wieder faszinierend: Eine breite Straße, links und rechts davon nichts außer Betonwüste und mitten auf dem Gehsteig wächst ein zartes Löwenzahn-Pflänzchen, das den festen Boden förmlich aufgesprengt hat. Wie kann etwas, das sich so leicht rupfen und zerreißen lässt, gleichzeitig so viel Kraft ausüben, dass sogar Asphalt klein beigibt? Oder hat sich die Natur da wieder einen Trick einfallen lassen?

Durch einen Prozess, der Imbibition genannt wird, gelangt Wasser vom Boden ins Innere von Samen oder Wurzeln. Der Unterschied des chemischen Potentials vom Wasser im trockenen Pflanzenteil und in der feuchten Erde ist die Triebkraft für diesen Vorgang. Denn sämtliche Prozesse der Natur streben nach einem Gleichgewicht und erst wenn die Pflanzenteile ausreichend Wasser aufgenommen haben, sind die chemischen Potentiale in der Waage.

Verantwortlich dafür sind hydrophile – „wasserliebende“ – Substanzen wie Proteine, Stärke oder Zellulose. Diese können und wollen sehr viel Wasser aufnehmen und speichern. Allerdings auch unterschiedlich viel: Wegen der höheren Imbibitionskapazität von Proteinen schwellen Kichererbsen zum Beispiel viel stärker an als stärkehaltige Weizenkörner. Bildlich gesprochen ist das vergleichbar mit einem Schwamm, der im Wasser auf ein Vielfaches seines trockenen Volumens anwächst.

 

Imbibitionsdruck

Wenn ein Keimling am Wachstum gehindert wird, kann durch die Triebkraft der Imbibition ein enormer Druck entstehen. Diesen Umstand hat sich die Natur auch zunutze gemacht. Die Schale der Macadamianuss kann Kräften bis 150 kg standhalten und das kann sie nicht ohne guten Grund. Um die widerstandsfähige Hülle zu knacken, muss die Nuss genügend Wasser zur Verfügung haben, damit sich ein entsprechend hoher Imbibitionsdruck ausbilden kann. Dadurch schützt die harte Schale nicht nur vor Fressfeinden, es wird auch gewährleistet, dass die Pflanze erst zu keimen beginnt, wenn eine ausreichend feuchte Jahreszeit angebrochen ist. Der physikinteressierte Leser wird sich sofort an das Dritte Newtonsche Axiom – Actio est Reactio – erinnern und feststellen, dass der Keimling zum Aufbrechen der Schale gleichzeitig der selben Kraft ausgesetzt sein muss. Das ist grundsätzlich richtig, allerdings haben wir es hier mit zwei unterschiedlichen Arten der Belastung zu tun. Im Inneren der Nuss wirkt eine Druckbelastung, der Feststoffe üblicherweise sehr gut standhalten können. Außerdem wird die Kraft auf ein relativ großes Volumen verteilt und der Keimling wird vom aufgesogenen Wasser gestützt. Auf die Schale wirkt hingegen eine Zugbelastung, was vielleicht nicht offensichtlich erscheint. Doch dem Druck von Innen ausgesetzt, möchte sich die Oberfläche der Hülle vergrößern und wird auseinandergezerrt. Mikroskopisch kleine Risse beginnen zu wachsen und die Schale bricht, weil sich das holzige Material nicht dehnen kann wie ein Ballon aus Gummi.

Festigungsgewebe

Nach einem ähnlichen Prinzip lässt sich das Aufbrechen von Asphaltplatten durch flach wurzelnde Bäume erklären. Auf die über die Jahre dicker werdende Wurzel wirkt nur eine Druckbelastung, die dem Pflanzenteil nichts anhaben kann. Durch das punktförmige Anheben der Asphaltplatte ist diese von zwei Seiten durch ihr Eigengewicht einer Biegung ausgesetzt und es wirken sowohl Druck- als auch Zugkräfte. Weil sich auch Asphalt nicht sonderlich weit dehnen lässt, kommt es irgendwann zum Bruch.

Ein krautiges Gewächs, wie der Löwenzahn, hätte auf diese Weise aber keine Chance gegen das feste Material. Dazu muss eine Pflanze große Mengen Festigungsgewebe bilden, sogenanntes Sklerenchym. Dieses tritt partikelförmig als Sklereide in Nussschalen und Rinde auf und ist für deren hohe Druckfestigkeit und Härte maßgebend. In Form von Sklerenchymfasern ist es wiederum für die sehr gute Zugfestigkeit von Flachs und Holz verantwortlich. Ohne diese Eigenschaften könnten Bäume niemals so hoch wachsen. Durch ihr Eigengewicht sind sie enormen Druckbelastungen ausgesetzt, denen sie nur dank der Sklereiden standhalten. Die Sklerenchymfasern verhindern ein Brechen des Stammes bei Biegungsbelastungen durch starken Wind. Bezogen auf das Gewicht gibt es kaum ein Material, das mechanischen Belastungen besser standhält als Holz. Aus diesem Grund wurden die ersten Flugzeuge zu einem Großteil aus diesem Material gefertigt.

Bruchmechanik

Doch wie schafft es der Löwenzahn trotz seiner geringen Festigkeit unbeschadet die dicke Asphaltplatte zu durchbohren?

Es beginnt mit einer frisch gegossenen Decke aus dem Sand-Zement-Gemenge, unter der bereits Samen des krautigen Gewächses in der Erde schlummern. Wegen der Nicht-Idealität von realen Materialien bilden sich bereits beim Aushärten des Asphalts unzählbare Schwachstellen in Form von mikroskopisch kleinen Rissen. Unter idealen Bedingungen hätte der Löwenzahn keine Chance. Wasser dringt in die kleinen Spalten hinein und dehnt sich sowohl bei Temperaturerhöhung als auch beim Gefrieren aus. Es kommt dadurch über die Monate und Jahre zu einer Aufweitung der Risse.

Die feinen Wurzeln des Keimlings werden von dem vielen Wasser in den Spalten angezogen und haben dort jetzt genügend Platz, sich auszubreiten. Der Löwenzahn beginnen zu wachsen und übt stetig steigenden Druck aus. Normalerweise würden die Kräfte trotzdem nicht hoch genug werden, um Asphalt brechen zu können. Allerdings kommt es in der Spitze des Risses zu einer Spannungserhöhung und es wirkt ein Vielfaches der ausgeübten Kräfte. Dieser Energie kann das feste Material schließlich nicht mehr standhalten und das zarte Pflänzchen durchbricht die ursprünglich unüberwindbare Hürde.

 

Text von Maximilian Wolf


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