In einem unserer letzten "Strebergarten" Beiträge hat sich unser Biodiversitätsbeauftragter mit "Bäume für den kleinen Garten" beschäftigt. Auch wenn die idealen Bäume für den Kleingarten nicht zu hoch sein sollten, wird in diesem Beitrag die Frage geklärt, warum Bäume eigentlich so hoch werden können.

 

Die Absicht dahinter, der Größte im Wald sein zu wollen ist schnell durchschaut: Wer mit seiner Baumkrone am höchsten über seine Nachbarn herausragt, bekommt das meiste nahrhafte Sonnenlicht ab. Der Konkurrenzkampf ist so groß, dass dafür sogar Gesetze gebrochen werden! Denn rein physikalisch betrachtet, ist ein Baum mit über zehn Metern Höhe unmöglich.

Wasser muss von den Wurzeln bis in die letzten Spitzen der höchsten Äste transportiert werden, um diese mit Nährstoffen zu versorgen und Photosynthese zu ermöglichen. Dabei wird lediglich ein Prozent des Wassers für die Photosynthese gebraucht, weitere fünf Prozent dienen der Bildung neuer Pflanzenzellen und der Rest verdunstet einfach. Warum Bäume das mühselig beförderte Gut größtenteils wieder verschludern, ist unbekannt. Jedenfalls trägt das verdunstete Wasser zu einem angenehmen Klima in Wäldern bei, wovon andere Organismen profitieren. Vielleicht ist es diese Symbiose, die dem Baum zum Vorteil gereicht. Wie die höchsten Vertreter im Pflanzenreich diesen Transport meistern und warum das überhaupt so spannend ist, wollen wir uns genauer ansehen.

Die physikalische Grenze

Flüssigkeiten können auf der Erde nicht weiter als zehn Meter über den Boden gesaugt werden. Anschaulich betrachtet liegt das an einer maximalen Druckdifferenz zwischen dem unteren und dem oberen Ende. Wasser muss aus dem Boden, wo Umgebungsdruck herrscht, hinaufbefördert werden, indem der Druck oben reduziert wird. Eine Druckreduktion entspricht der Verringerung der Teilchenanzahl – zum Beispiel in Form von Luftmolekülen – in der Umgebung. Den physikalischen Gesetzen entsprechend kann der Druck nicht geringer als null werden, denn aus einem leeren Raum können keine weiteren Teilchen entnommen werden.

Durch diese Einschränkung ergibt sich eine maximale Kraft, mit der die Wassermoleküle nach oben gezogen werden. Diese konkurriert mit der Gewichtskraft, die sie nach unten zieht. Bei einer Höhe von etwa zehn Metern befinden sich beide Kräfte im Gleichgewicht. Für die Streber habe ich das im Kasten rechts vorgerechnet. Damit in Bäumen eine stehende Wassersäule mit einer Höhe von über zehn Metern möglich wird, müsste der Druck unten also größer sein als der Umgebungsdruck. Doch mir sind keine Kobolde bekannt, die am Wurzelende in die Bäume hineinblasen und das Wasser nach oben drücken.

Die falschen Annahmen

 Es muss also eine andere Möglichkeit geben, wie Bäume über zehn Meter hoch werden können, ohne dabei Gesetze zu brechen. Häufig wird der Kapillareffekt in diesem Zusammenhang genannt, der auf der Oberflächenspannung basiert. Innerhalb von Hohlzylindern kann die sogenannte Benetzung zu einem Anstieg des Flüssigkeitsspiegels führen. Umso kleiner der Innendurchmesser einer solchen Kapillare ist, umso höher steigt das Wasser. Allerdings sind die Röhrchen in Bäumen mit Durchmessern zwischen 20 und 200 μm zu dick, um genügend Anstieg zu ermöglichen. Das Wasser würde in den dünnsten Baumkapillaren weniger als 40 cm an Höhe gewinnen. 

Weitere Erklärungsversuche wurden angestellt: Beispielsweise mit Trennwänden zwischen den Röhrchen, die durch ein Schleusensystem mehrere Stufen von den eingangs beschriebenen Druckdifferenzen erlauben. Oder durch den osmotischen Druck, der Flüssigkeiten von Bereichen mit geringerem Salzgehalt in salzreichere Bereiche drückt. Das würde aber Mangrovenbäume in ihrem ursprünglichen Ökosystem verdursten lassen. Denn dort ist der Salzgehalt des Bodens so hoch, dass von den Pflanzen sogar ein zusätzlicher Druck erzeugt werden muss, um das Wasser in die Wurzeln zu befördern. Ganz originell ist die Idee, Bäume würden kontrahieren und mit einer Art Muskelkraft eine Aufwärtsbewegung in den Kapillaren erzeugen. Das Xylem, aus dem die Röhrchen bestehen, ist jedoch kein lebendes Gewebe und kann daher nicht aktiv zusammengezogen oder aufgeweitet werden. 

Die chemische Lösung 

Wieder einmal müssen wir für die Lösung eines Problems unsere Fühler etwas weiter ausstrecken und uns in andere wissenschaftliche Gebiete wagen. Was rein physikalisch betrachtet unmöglich erscheint, kann in diesem Fall mithilfe von chemischen Weisheiten erklärt werden. 

Der ursprünglich verfolgte Ansatz mit der Druckdifferenz war gar nicht so unrichtig, allerdings haben wir den falschen Aggregatzustand betrachtet. Für Gase stimmt die Regel, dass es keinen Druck unter null geben kann. In Flüssigkeiten sieht die Sache etwas anders aus: Wenn am oberen Ende der Wassersäule ein H2O-Molekül entnommen wird, entsteht eine Lücke, die von unten wieder aufgefüllt werden will. Umso mehr Lücken vorhanden sind, umso höher ist die Triebkraft für die nachrückenden Teilchen und die so entstehende Druckdifferenz kann theoretisch unendlich hoch werden. Entscheidend dabei ist, dass das Wasser seinen flüssigen Aggregatzustand nicht verlässt, weil sonst die Triebkraft zur Lückenfüllung verloren geht. 

Im idealen physikalischen Modell führt das fortlaufende Entfernen von H2O-Molekülen irgendwann zu einer Umwandlung in Wasserdampf. Denn wenn weniger Teilchen vorhanden sind, ändern sie ihre Anordnung zueinander. Von der Chemie kennen wir aber auch sogenannte metastabile Zustände. Das sind Zwischengleichgewichte, die erst verlassen werden, sobald eine gewisse Aktivierungsenergie zugeführt wird. Bildlich kann man sich das wie eine Kugel vorstellen, die auf dem Gipfel eines Berges balanciert. Egal wie hoch der Berg wird, solange die Kugel nicht in eine Richtung ausgelenkt wird, bewegt sie sich nicht von der Stelle. 

Innerhalb der Xylemkapillaren der Bäume behält das Wasser seine flüssige Form, weil es im Normalfall keine Kräfte gibt, die das Gleichgewicht stören. Deshalb sind Frost und Trockenheit für Bäume und Pflanzen im Allgemeinen so gefährlich: Luftblasen oder Eiskristalle führen zu einer Unterbrechung der stehenden Wassersäule und der metastabile Zustand wird aus der Balance gebracht. 

Doch wie schaffen es die Pflanzen, dass sich in ihren Wurzeln, Stämmen und Ästen stets flüssiges Wasser und nicht ein einziges gefährliches Luftbläschen befindet?
Ganz einfach: Sie wachsen von klein auf um und mit der Wassersäule und helfen ihr, physikalisch verbotene Höhen zu erreichen.

 

von Maximilian Wolf


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